Kindheit & Jugend
Bertel Ruth Wertheim wurde am 28. März 1927 in Gießen geboren und wuchs in Londorf auf. Familie Wertheim, bestehend aus Ruth, ihrer Schwester Inge und ihren Eltern Leopold und Emma, wohnte in der Kirchstraße 12. Leopold und Emma Wertheim waren Ruths Eltern. Mit ihnen und ihrer Schwester Inge wohnte sie in der Kirchstraße 12, Londorf.
Leopold Wertheim war Kriegsveteran und kämpfte im ersten Weltkrieg für Deutschland. Leopolds Spitznamen, "E-Arm", auch "Ein-Arm", hatte den Ursprung in seiner Verletzung in der Marneschlacht, wo er an der Front für Deutschland kämpfte und ihm in französischer Gefangenschaft der rechte Arm, welcher verwundet war, amputiert wurde. Seit seiner Verwundung arbeitete er in Londorf als Viehhändler und war Vereinsmitglied der Sängervereinigung "Frohsinn". Nachdem er als Austauschgefangener über die Schweiz nach Deutschland kam, wohnte er in Londorf. Er wurde Viehhändler und lernte seine spätere Frau Emma Stern kennen. Als Leopold dort sang, schaute ihm seine Tochter Inge immer gerne dabei zu und sang die Lieder zusammen mit einer Freundin nach. Als Inge im Grundschulalter war, hörte sie ihm nach der Schule gerne beim singen zu.
Ruth hatte eine wundervolle und sorglose Kindheit. Sie spielte gerne mit ihrer großen Schwester Inge, trocknete Blumen oder verbrache ihre Zeit vor ihrer Puppenküche.
Nationalsozialistische Verfolgung
Wie jedes Kind freute sich Ruth besonders auf ihre Schulzeit, die in der Volksschule Londorf im Jahr 1933 begann.
Mit der Zeit integrierte sich auch im Gießener Landkreis, darunter Londorf, das nationalsozialistische Gedankengut und Juden wurden immer unerwünschter. In einem Brief spricht Ruth über ihr zweites Schuljahr:
"Ich wurde von allen besonderen Aktivitäten ausgeschlossen, von den anderen Kindern auf dem Schulhof verhöhnt und beschimpft , und da ich das einzige jüdische Kind in der Schule war, hatte ich keine Freunde oder Spielkameraden. [...] Als sich die Lage in der Schule zuspitzte, in physischer Gewalt endete und ich blutend und voller blauer Flecken heimkam, waren meine Eltern der Ansicht, es sei an der Zeit, andernorts meine Erziehung fortzusetzen."
(Ausschnitt eines Briefes an M. Kingreen, 1993;
Ins Deutsche übersetzt von Elke Griffiths)
Ruths davor noch problemlose Kindheit verwandelte sich in eine Alleingang und ihre Mitmenschen fingen an, sie auszugrenzen und regelrecht zu meiden. Nachdem sie in ihrer Klasse Opfer von physischer Gewalt wurde, war es für ihre Eltern klar, dass sie dort nicht mehr zur Schule gehen konnte.
Nun suchten Emma und Leopold nach einem Ort, wo Ruth zur Schule gehen konnte. In den Folgejahren wechselte Ruth an Internate und Bezirksschulen, wo sie zwar neue Freunde fand und die besten Jahre ihrer Kindheit verbrachte, manche Einrichtungen ihr jedoch als Albtraum im Gedächtnis bleiben sollten.
Konzentrationslager
Im Jahr 1941 war keine offene jüdische Schule mehr auffindbar und Ruth blieb nichts anderes übrig, als ohne einen Unterricht zu Hause zu bleiben. Ziemlich bald bekam die Familie die Nachricht, ihre Sachen zu packen, da die Deportationen begannen.
Familie Wertheim wurde zusammen mit den restlichen in Londorf lebenden Juden am 12. September 1942 deportiert. Pro Person durfte ein Beutel mit Kleidung, Bettzeug, Geschirr und einem Essensvorrat für 3 Tage mitgenommen werden. Vor Abreise musste Leopold die Vermögenserklärung, den Hausschlüssel und restliche Wertgegenstände abgeben.
Am 14. September fuhr ein Viehwaggon durch den Gießener Landkreis und brachte die dort wohnhaften Juden nach Gießen, welche anschließend mit der Bahn in ein Sammellager in Darmstadt transportiert wurden.
Familie Wertheim wurde dann am 27. September von Darmstadt in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie in einem Dachboden lebten und dort gegen den Tod und die Kälte ankämpfen mussten. Ihr Großvater David überlebte in Theresienstadt nur für ein paar Wochen, seine Todesursache ist unbekannt.
Ruth dachte, dass Ende des Krieges in Theresienstadt abwarten zu können. Am 6. Oktober des Jahres 1944 stand jedoch die Weiterdeportation nach Auschwitz an. Nach einer langen und anstrengenden Zugfahrt wurden direkt am Bahnhof zu Auschwitz 2 Gruppen gebildet. Ruth war nicht klar, dass eine Gruppe die älteren und nicht arbeitsfähigen Gefangenen für die Duschen sammelt. Während Ruth in die Gruppe der Arbeitsfähigen geschickt wird, kommen Leopold und Emma in die andere Gruppe. Die nächsten Wochen wurden zum Horror von Ruth. Während Sie um ihre Familie trauerte, musste sie auf sich alleine gestellt überleben, während ihr harte physische Arbeit unter unmenschlichen Temperaturen erteilt wurden.
Im November 1944 wurde Ruth in ein SS-Arbeitlager in Merzdorf deportiert, wo sie in Zwangsarbeit Fallschirme für die deutsche Wehrmacht herstellte. Wie die Jahre davor muss Ruth harte Arbeit mit wenig Essen und ohne warme Kleidung leisten. In Merzdorf konnte Ruth bereits die Front hören. Es war klar, dass der Krieg bald zu einem Ende kommen sollte.
Befreiung
Ruth Wertheim ist 18 Jahre alt, als sie am 5. Mai 1945 von den Russischen Truppen im SS-Arbeitslager in Merzdorf befreit wurde. Von über 60 der von Theresienstadt nach Auschwitz deportierten Juden waren Ruth Wertheim und ihre Freundin Gisela Eckstein die einzigen Überlebenden.
Eine Sache erhoffte sich Ruth am meisten. "Ich wusste, ich würde meine Eltern nie wiedersehen, soviel wusste ich, aber ich hatte die Hoffnung, dass meine Schwester überlebt hätte." (Ausschnitt eines Briefes an M. Kingreen, 1993; Ins Deutsche von Elke Griffiths übersetzt.)
Nachdem Ruth in einem Soldatenkrankenhaus kurzzeitig behandelt wurde, machte sie sich auf den Weg und reiste, natürlich zu Fuß, 650 Kilometer durch halb Deutschland zurück nach Londorf. Londorf war nicht mehr das Gleiche. Die Jüdische Gemeinde existierte nicht mehr und keiner der jüdischen Familien lebte in Londorf. Bald musste Ruth lernen, dass sie die einzige aus ihrer Familie und der aus Londorf deportierten Juden war, welche den Krieg überlebte. In Londorf fühlte sie sich nicht mehr heimisch. Ruths einzige Option war der Kontakt zu ihrer Tante und ihrem Onkel, welche in den 1930-ern in die Vereinigten Staaten gingen. Sie schrieb also Briefe nach Detroit, USA.
Aus dem zerstörten Deutschland einen Brief an die Familie in den Verenigten Staaten zu senden war eine wahre Herausforderung. Jeglicher Post-Verkehr war zerbrochen und das Geld für eine spontane Reise in die USA war nicht da. Glücklicherweise war Londorf in der amerikanischen Besatzungszone und Ruth konnte ihre Briefe durch amerikanische Soldaten an ihre Tante Thekla und ihren Onkel Max bringen lassen.
"Tante Thekla, kannst du dich noch erinnern, kurz vor deiner Abreise sagtest du mir einmal „wenn du Rutchen nach Amerika kommst, bist du eine große Dame & Ich werde dich nicht mehr erkennen" Jetzt wird es so sein."
(3. Brief an ihre Familie in den Vereinigten Staaten, Apr. 1946)
Ruth war ein Jahr und 2 Monate befreit, als sie den New-Yorker Hafen mit dem "Second Liberty Ship" am 15. Juli 1946 erreichte. Dort hatte Ruth nun die Freiheiten und Möglichkeiten, sich ein Leben aufzubauen und zu "leben".
Ruth in den Vereinigten Staaten
Am 15 Juli des Jahres 1946 kam Ruth mit dem „Second Liberty Ship“ in New York an, wo sie von Manfred Dreifuß abgeholt und zu Max und Thekla Adler gebracht wurde. Die Immigration in die Vereinigten Staaten gab Ruth seit 4 Jahren das erste Mal ein Gefühl von Sicherheit. Nun konnte sie sie endlich sicher sein, hatte ein Dach über dem Kopf und die Freiheit, sich ein Leben aufzubauen.
Im Februar 1949 heiratet sie den Anwalt Mitchell Bacow und bekommt noch im gleichen Jahr Tochter Elaine zwei Jahre später Sohn Lawrence.
Mit Elaine Simonson und Lawrence Bacow stehe ich seit Beginn meiner Recherche in Kontakt. Beide sind außerordentlich empathische und wundervolle Menschen. Eigenschaften, welche sie sicherlich ihrer Mutter zu verdanken haben.
Doch wie ging Ruth mit ihrer traumatischen Vergangenheit um? Wie hielt sie den Bezug zu Deutschland? Das und zahlreiche Geschichten, Personen und Orte, die ich hier noch nicht erwähnte, werden in meinem Buch erzählt. Dies sind grundlegende Informationen über Ruth. Welche außerordentlichen Wenden ihre Geschichte noch nehmen wird, zeige ich dann in meiner finalen Publikation.
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